Omega - Das Forum

6. Dezember 2027:
„Stopp mal bitte, Max“, rief Matthias und blätterte hektisch durch die Lektüre – „Die Physiker“. „Heißt das jetzt also, dass Möbius nur so tut, als wäre er verrückt, weil er sich verstecken will?“
Simon zeigte auf und Herr Biedermann nahm ihn mit einer fast schon gelangweilten Handbewegung dran.
„Ich denke Möbius weiß sehr wohl, dass er sich nicht wirklich verstecken kann“, erklärte Simon. „Die bloße Anwesenheit von Kilton und Eisler sollte uns doch beweisen, dass er es nicht kann. Vielmehr will er durch die Behauptung, seine Ideen seien ihm von Salomo eingegeben worden, sich selbst unglaubwürdig machen. Möbius hat wie der echte Einstein einfach drauflos geforscht und hat dabei eine Entdeckung gemacht, die in den falschen Händen grauenvolles Leid verursachen könnte. Das Problem ist, dass er zwar in den Regierungen von Eisler und Kilton diese falschen Hände wähnt, aber darüber eine ganz unabhängige, unkontrollierbare dritte Macht vergisst: Fräulein Doktor von Zahnd. Oder, um es auf den realen historischen Kontext zu bringen, die Atombombe war in den Händen der Russen und Amis weniger gefährlich als in denen irgendwelcher Terroristen – so etwas in der Richtung. Ich schätze, Dürrenmatt will einfach eine Warnung aussprechen, dass Wissenschaftler manchmal weniger darüber nachdenken sollten, wie und ob sie etwas schaffen, sondern vielmehr ob es überhaupt klug wäre, diese Erkenntnis zu erringen. Denn wer ohne zu überlegen forscht, endet wie Oppenheimer, der aus dem Begreifen des Ausmaßes seiner eigenen Erfindung resigniert und geschockt feststellte: ‚Ich bin der Tod geworden. Der Zerstörer der Welten.’“
„Aber ist Möbius nicht mehr wie Einstein als wie Oppenheimer?“, warf Lina, eine Mitschülerin von Simon mit krausen, braunen Haaren und einer knallbunten Brille auf der Nase, ein. „Oppenheimer hat ja nun ganz aktiv am Bau der Bombe mitgearbeitet, während Einstein mit seinen Formeln einen Grundstock gelegt hatte, der die Atombombe ermöglichte.“
„Ich hab nichts gegenteiliges behauptet“, verteidigte sich Simon. „Es geht um die Verantwortung, die ein Wissenschaftler trägt, wenn er etwas entdeckt, das verheerende Folgen haben könnte. Gleichzeitig ist es aber nun einmal der Auftrag der Wissenschaft zu forschen, die Wahrheit zu erkennen. Mit diesem Zwiespalt beschäftigen sich ‚Die Physiker’ ebenso wie Brechts Galilei oder das Drama über Oppenheimer selbst. Sie verfolgen zwar unterschiedliche Ansätze, andere Dramenkonzepte, aber sie alle stehen als Warnung da – nicht nur für die Wissenschaft, sondern für die Menschheit.“
„Aber zeigt das Drama nicht irgendwo, dass die Menschheit als Ganzes unfähig ist, diese Verantwortung zu tragen?“, warf Biedermann in die Runde.
„Dürrenmatt sagt selbst ganz klar: ‚Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen’“, erwiderte Simon.
„Das heißt aber nicht, dass die Verantwortung bei allen liegt“, erwiderte Lina. „Die Verantwortung lag einzig und allein bei Möbius und er handelt an und für sich auch richtig. Die Irre überlistet ihn nun. Es hilft ihm nichts, die Texte zu zerstören, wenn sie sich das Wissen dennoch aneignet.“
„Also, soll Möbius Schuld sein, wenn die seine Ideen missbraucht?“, lachte Matthias auf. „Das ist doch totaler Schwachsinn. Du klagst doch auch nicht den Küchenmesserhersteller an, wenn eine ihren Mann damit absticht. Schuld hat letztlich immer noch nicht der Erfinder einer Waffe, sondern der, der den Finger am Abzug hat.“
„Ich hab aber noch nie von einem Pazifisten gehört, der Waffen herstellt“, entgegnete Lina trotzig.
„Kalaschnikow etwa hat zumindest große Bestürzung darüber geäußert, dass seine Waffen so viel Unheil anrichten“, warf Max ein.
„Daran hätte er mal denken sollen, bevor er dieses Ding entwickelt hat“, zischte Lina.
„Das ‚Ding’ heißt AK-47“, merkte Matthias an. „Aber was ist mit Einstein? Der war überzeugter Pazifist und hat den Amis dennoch bei dem Bau der Atombombe geholfen, weil die ihm erzählt hätten Onkel Adolf hätte seine schon in Arbeit.“
„Matthias, bitte“, tadelte ihn Biedermann.
„Okay, das verbrecherische Arschloch, mit dem man uns schon ewig und drei Tage auf den Geist geht“, stöhnte Matthias, woraufhin Biedermann genervt die Augen verdrehte.
„Ich denke wir kommen hier gerade auf einen anderen nicht uninteressanten Punkt zu sprechen“, meinte er dann. „Welche Rolle spielen der Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen in unserem Drama? Ja, Max.“
„Ich denke mal, dass das vor allem bei dem, was die zwei Agenten über ihre Auftraggeber sagen, wichtig ist“, begann dieser nun. „Gerade die Amis haben doch jede Menge Nazi-Wissenschaftler exportiert und in die USA geschafft. Bekanntestes Beispiel wäre hier Von Braun.“
„Findest du das nicht etwas weit hergeholt?“, fragte Simon seinen Sitznachbarn unverwandt. „Sind jetzt die Amis die Bösen, oder was?“
„Um gut oder böse geht es doch gar nicht“, mahnte Matthias. Sein Blick verfinsterte sich, als er Simon ansah... nein, dachte Simon dann, er sieht irgendwie ängstlich oder besorgt aus. Simon kniff die Augen zu, er merkte wie ihm plötzlich schwindelig und furchtbar warm wurde.
„Geht’s dir nicht gut?“, erkundigte sich Max besorgt.
„Könntest du vielleicht mal kurz das Fenster aufmachen, Matthias?“, bat Simon und sah zu Matthias, der vor der Fensterbank saß, hinüber. „Mir ist irgendwie total warm und schwindelig.“
„Willst du vielleicht mal kurz rausgehen an die frische Luft?“, fragte Biedermann.
„Ginge das?“, fragte Simon. Er ahnte was passieren würde. Es war nicht das erste Mal. Aber warum ausgerechnet jetzt und hier? Ja, er musste raus, irgendwohin, wo keine Menschen waren, denen er schaden könnte.
„Max, gehst du bitte mit?“, forderte Biedermann Max auf. „Nicht, dass er uns noch umkippt.“